6.1 Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie und ihre Beziehung
zur fernöstlichen Philosophie
Im Kapitel 4.4 bin ich schon auf die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie eingegangen. Für das weitere Verständnis dieser Arbeit will ich nun die experimentellen Abläufe beschreiben, wie sie heute unter dem Einfluß der Kopenhagener Deutung interpretiert werden.
Der Ausgangspunkt der Kopenhagener Deutung ist die Unterteilung der physikalischen Welt in ein beobachtetes System (Objekt) und ein beobachtendes System. Bei dem beobachteten System kann es sich z.B. um ein Atom, ein subatomares Teilchen oder um einen atomaren Vorgang handeln. Das beobachtende System besteht aus den Versuchsapparaturen und mindestens einem menschlichen Beobachter. Die große Schwierigkeit der Quantentheorie besteht jetzt darin, daß diese beiden Systeme verschieden beschrieben werden. Das beobachtende System wird mit Ausdrücken der klassischen Physik beschrieben, die aber für die Beschreibung des Objekts nicht sinnvoll angewendet werden können. Wir wissen zwar, daß sich die klassischen Begriffe der Physik in atomaren Größenbereichen als unzureichend erwiesen haben, doch müssen wir diese verwenden, um die Versuche zu beschreiben und ihre Ergebnisse festzuhalten. Wir sind insofern vor ein Paradoxon gestellt, das wir nicht umgehen können. Die technische Sprache der Physik ist eine Verfeinerung unserer Umgangssprache, und nur diese steht uns zur Beschreibung der Versuche und ihrer Ergebnisse zur Verfügung.
Wegen der statistischen Gesetze, denen die Quantentheorie folgt, und des Unbestimmtheitsprinzips ist es uns nicht möglich exakte Werte für atomare Vorgänge und Teilchen anzugeben. Daher werden diese Vorgänge in Form von Wahrscheinlichkeiten beschrieben. Der Grund für diesen statistischen Charakter soll hier erläutert werden.
Die meisten der heute bekannten subatomaren Teilchen sind instabil, d.h. sie zerfallen nach einer bestimmten Zeit in andere Teilchen. Wir sind nicht in der Lage, ihre ‘‘Lebensdauer’‘ vorherzusagen und auch nicht, in welche Teilchenkombination sie zerfallen werden. Wir können jedoch angeben, daß etwa 20 % der beobachteten Teilchen in die eine und 80 % in eine andere Kombination von Elementarteilchen zerfallen werden. Diese statistischen Kenntnisse haben die Physiker aus vielen Experimenten im Laufe der Zeit erworben.(vgl. [2] S. 131-134) Dabei läuft die Deutung eines Experiments wie folgt ab:
Zuerst wird die Anordnung des Experiments mit Hilfe der klassischen Begriffe der Physik beschrieben, und die Beschreibung wird in eine Wahrscheinlichkeitsfunktion übersetzt. Diese Wahrscheinlichkeitsfunktion folgt den Gesetzen der Quantentheorie, und ihre kontinuierliche Änderung im Laufe der Zeit kann aus den Anfangsbedingungen berechnet werden. Dabei vereinigt die Wahrscheinlichkeitsfunktion objektive und subjektive Elemente. Sie enthält Aussagen über Tendenzen, die objektiv sind und unabhängig von einem Beobachter. Außerdem enthält sie Aussagen über unsere Kenntnisse des Systems, die subjektiv sind. Dabei beschreibt die Wahrscheinlichkeitsfunktion nicht einen bestimmten Vorgang, sondern eine Gesamtheit von Vorgängen.
„Die Beobachtung selbst ändert die Wahrscheinlichkeitsfunktion unstetig. Sie wählt von allen möglichen Vorgängen den aus, der tatsächlich stattgefunden hat. Da sich durch unsere Beobachtung unsere Kenntnis des Systems unstetig geändert hat, hat sich auch ihre mathematische Darstellung unstetig geändert, und wir sprechen von einem ‘Quantensprung’. … Der Übergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt. Wenn wir beschreiben wollen, was in einem Atomvorgang geschieht, so müssen wir davon ausgehen, daß das Wort ‘geschieht’ sich nur auf die Beobachtung beziehen kann, nicht auf die Situation zwischen zwei Beobachtungen. Es bezeichnet dabei den physikalischen, nicht den psychischen Akt der Beobachtung, und wir können sagen, daß der Übergang vom Möglichen zum Faktischen stattfindet, sobald die Wechselwirkung des Gegenstandes mit der Meßanordnung und dadurch mit der übrigen Welt ins Spiel gekommen ist. Der Übergang ist nicht verknüpft mit der Registrierung des Beobachtungsergebnisses im Geiste des Beobachters. Die unstetige Änderung der Wahrscheinlichkeitsfunktion findet allerdings statt durch den Akt der Registrierung; denn hier handelt es sich um die unstetige Änderung unserer Kenntnis im Moment der Registrierung, die durch die unstetige Änderung der Wahrscheinlichkeitsfunktion abgebildet wird. [11] S. 36 f.
Das, was wir beobachten, existiert nur als Verbindungsstück zwischen der Versuchsanordnung und unseren Meßgeräten (s. Abb. 14). Wir können es nicht als für sich selbst existierendes Teilchen oder Vorgang verstehen, sondern nur in Verbindung mit unseren Anfangsbedingungen und der späteren Messung können wir über das sprechen, was wir beobachtet haben.

Abb. 14: Nur in Verbindung zwischen den Anfangsbedingungen und der Messung
können wir über eine Beobachtung sprechen
Die Quantentheorie enthüllt so einen wesentlichen inneren Zusammenhang des Universums. Einige Wissenschaftler glauben daher, daß wir die Welt nicht in unabhängig existierende kleinste Teilchen zerlegen können. Beim Eindringen in die Materie stellen wir fest, daß sie aus Teilchen besteht, doch diese sind nicht die Grundbausteine, wie Demokrit oder Newton sie verstanden haben. Sie sind lediglich Idealisierungen, oder wie Niels Bohr sich ausdrückte:
„Isolierte Materie-Teilchen sind Abstraktionen, ihre Eigenschaften sind nur durch ihr Zusammenwirken mit anderen Systemen definierbar und wahrnehmbar.“ [2] S. 139
Auf der atomaren Ebene lösen sich also die ‘‘festen’‘ Objekte der klassischen Physik in Wahrscheinlichkeitsstrukturen auf. Doch diese Strukturen stellen nicht die Wahrscheinlichkeit von Dingen dar, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit von Zusammenhängen. Daher glauben die New-Age-Wissenschaftler, daß wir durch die Quantentheorie gezwungen werden, das Universum als ein kompliziertes Gewebe von Beziehungen zwischen den verschiedensten Teilchen eines vereinigten Ganzen zu sehen und nicht als eine Ansammlung physikalischer Objekte. Aber diese Sichtweise ist doch genau dieselbe, die auch die fernöstlichen Philosophen erkannt haben. Diese schreiben z.B.:
„Das Stoffliche Objekt wird … etwas anders, als wir es jetzt sehen, nicht als ein selbständiges Objekt vor dem Hintergrund oder in der Umgebung der übrigen Natur, sondern ein untrennbares Teil und auf subtile Art sogar ein Ausdruck der Einheit von allem, was wir sehen.“ (S. Aurobindo) [2] S. 139
„Dinge leiten ihre Natur und ihr Sein von gegenseitiger Abhängigkeit her und sind nichts in sich selbst.“ (Nagarjuna) [2] S. 139
So, wie wir diese mystischen Beschreibungen der Natur auch als Beschreibungen der Atomphysik ansehen können, könnten andersherum folgende Aussagen von Atomphysikern als Beschreibung der Natur im mystischen Sinne verstanden werden:
„Ein Elementarteilchen ist keine unabhängig existierende, analysierbare Einheit. Es ist im Grunde eine Reihe von Zusammenhängen, die sich nach außen zu anderen Dingen hin erstrecken.“ (H.P. Stapp) [2] S. 140
„Die Welt erscheint in dieser Weise als ein kompliziertes Gewebe von Vorgängen, in dem sehr verschiedenartige Verknüpfungen sich abwechseln, sich überschneiden und zusammenwirken und in dieser Weise schließlich die Struktur des ganzen Gewebes bestimmen.“ (W. Heisenberg) [11] S. 75
Dieses Bild von Verkettungen, das einem kosmischen Netz gleicht und aus der modernen Physik erwächst, wurde im fernen Osten häufig benutzt, um die mystischen Erfahrungen der Natur mitzuteilen. Für den Hindu ist Brahman der bindende Faden im kosmischen Gewebe die letzte Ursache allen Seins:
„Ihr kennt diesen, in den Himmel, Erde und Luftraum, das Manas zusammen mit allen Hauchen verwebt sind, als den einen Atman (die Seele).“ [2] S. 140
Indessen spielt das Bild vom kosmischen Gewebe im Buddhismus eine noch größere Rolle. Das Avatamsaka-Sutra beschreibt die Welt als ein perfektes Netzwerk von gegenseitigen Beziehungen, bei denen alle Dinge und Ereignisse auf komplizierte Weise zusammenwirken. Um diesen inneren Zusammenhang zu illustrieren, haben die Buddhisten viele Gleichnisse entwickelt. (vgl. [2] S. 140 f.) Diese wurden in schriftlicher Form als Tantras bekannt, was ‘‘Weben’‘ bedeutet und sich auf die Verwobenheit und die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge und Ereignisse bezieht.
In der östlichen Mystik wird der menschliche Beobachter immer als Teil dieser universellen Verwobenheit gesehen, so wie auch in der Atomphysik. Wie schon erwähnt, können Objekte auf der atomaren Ebene nur in Begriffen der Wechselwirkung zwischen den Vorbereitungs- und Meßverfahren verstanden werden. Am Ende dieser Kette von Vorgängen steht immer das Bewußtsein des menschliche Beobachters. Messungen sind Vorgänge, die in unserem Bewußtsein bestimmte Empfindungen hervorrufen. Eine visuelle Empfindung kann z.B. ein dunkler Fleck auf einer Fotoplatte sein. Die Gesetze der Atomphysik geben uns Auskunft über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Objekt eine bestimmte Empfindung in unserem Bewußtsein hervorrufen wird.
„Die Naturwissenschaft beschreibt und erklärt die Natur nicht einfach so, wie sie ‘an sich’ ist. Sie ist vielmehr ein Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst.“ [11] S. 60
Doch das Entscheidende an der Atomphysik ist, daß der Beobachter nicht nur für die Beobachtungen der Eigenschaften des Objekts notwendig ist, sondern daß er die Eigenschaften bis zu einem gewissen Grad mitbestimmt. Je nachdem, wie er das Objekt beobachtet, kann sich z.B. ein Elektron sowohl als Teilchen als auch als Welle im Bewußtsein des Beobachters manifestieren. Wir können in der Atomphysik nicht von den Eigenschaften eines Objekts als solchem sprechen. Sie sind nur im Zusammenhang mit der Wechselwirkung des Objekts mit dem Beobachter von Bedeutung.
„Was wir beobachten, ist nicht die Natur selbst, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.“ [11] S. 60
Denn der Beobachter entscheidet, wie er die Messungen aufstellt, und diese Anordnung bestimmt bis zu einem gewissen Grade die Eigenschaften des beobachteten Objekts. Ändert der Beobachter die Versuchsanordnung, dann ändern sich auch die Eigenschaften des Objekts. Daher kann der Wissenschaftler in der Atomphysik nicht die Rolle eines unbeteiligten, objektiven Beobachters spielen, sondern er wird in die beobachtete Welt mit einbezogen und beeinflußt dieselbe. Der Wissenschaftler John Wheeler sieht darin den wichtigsten Zug der Quantentheorie und empfiehlt, den Ausdruck ‘‘Beobachter’‘ durch ‘‘Teilnehmer’‘ zu ersetzten:
„In irgendeinem merkwürdigen Sinn ist das Universum ein teilnehmendes Universum.“ [2] S. 142
Aber gerade die Annahme der Teilnahme, die erst kürzlich von einigen Physikern formuliert wurde, ist das Kernstück der fernöstlichen, mystischen Philosophien. Mystisches Wissen kann niemals nur durch Beobachten erlangt werden. Das wesentliche an mystischen Erfahrungen ist, daß sie durch volle Teilnahme an der ganzen Welt erlangt werden. Dabei gehen die fernöstlichen Mystiker jedoch noch viel weiter als diese Physiker. In der Meditation gelangen sie nämlich an einen Punkt, an dem die Grenzen zwischen Beobachter und Objekt zusammenbrechen und Objekt und Subjekt zu einem undifferenzierten Ganzen verschmelzen.
„Wo es Dualität gibt, da sieht eins das andere; da riecht eins das andere, das schmeckt eins das andere … Aber wo alles das eigene Selbst geworden ist, womit und wen würde man sehen? Womit und was würde man riechen? Womit und wen würde man schmecken?“ [2] S. 142
Einige New-Age-Wissenschaftler haben mit Hilfe der Quantentheorie den Begriff von grundsätzlich selbständigen Objekten abgeschafft. Sie haben den Beobachter durch den Teilnehmer ersetzt und mögen es sogar notwendig finden, das menschliche Bewußtsein in ihre Beschreibung der Welt mit einzubeziehen. Diese Wissenschaftler sehen das Universum als zusammenhängendes Gewebe physikalischer und geistiger Beziehungen, dessen Teile nur durch ihre Beziehung zum Ganzen definiert werden können. (vgl. [2] S. 140-143) Diese neue Weltanschauung wird sehr schön durch folgende buddhistische Worte ausgedrückt:
„Der Buddhist glaubt nicht an eine unabhängige oder getrennt existierende äußere Welt, in deren dynamische Kräfte er sich hineinprojizieren könnte. Die äußere Welt und seine innere Welt sind für ihn nur zwei Seiten des selben Gewebes, in dem die Fäden aller Kräfte und aller Ereignisse, aller Formen des Bewußtseins und ihrer Objekte zu einem unauflöslichen Netz von endlosen, sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhängen verwoben sind.“ [2] S. 143