Wokeismus als praktisches Konzept der Postmoderne

Ich frage mich häufig, wer oder was dafür gesorgt hat, dass sich die Denker unserer Gegenwart und mit ihnen die Medien als ihr Sprachrohr, von der Aufklärung und Moderne als Grundlage unseres Denkens, abgekehrt haben. Dazu möchte ich folgenden Artikel vorstellen, der mir Aufklärung gebracht hat:

„Der westliche Durchschnittsmensch der Gegenwart, der weder sozialwissenschaftlich bewandert noch politisch nennenswert aktiv ist, findet sich momentan in einer Gesellschaft wider, die sich in den letzten 10-15 Jahren in atemberaubendem Tempo verändert hat. Dabei weiss er selbst nicht, wie ihm geschieht: Zunehmend nimmt er Stimmen in den Medien wahr, die von ‚Dekolonisierung‘ sprechen, ‚Kulturelle Aneignung‘ beklagen und sich über die fehlende Repräsentation bestimmter ‚Identitätsgruppen‘ in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft beschweren. ‚Diversität‘, ‚Inklusivität‘ sowie ‚Sensibilität‘ für LGBTQ- und Rassismus-Themen sind gleichermassen Begriffe, die sich im öffentlichen Debattenraum häufen. Doch Menschen aller Alters- und Sozialschichten verstehen häufig nicht, was es mit dieser scheinbar omnipräsenten Toleranz-Besessenheit auf sich hat, geschweige denn, welche Hintergründe und Absichten damit einhergehen. Was das Ganze umso verwirrender macht, ist die Tatsache, dass sich Berichte über Mitmenschen häufen, die entlassen, ‚gecancelt‘ (also aus einer Debatte ausgeschlossen bzw. mundtot gemacht) oder in den sozialen Medien beleidift und bedroht wurden, weil sie etwas gesagt oder getan haben, das als sexistisch, rassistisch, homophob oder transfeindlich interpretiert wird. Stehen diese Dynamiken nicht im Widerspruch zu den lautstarken Toleranz-Bekundungen von Aktivisten, Politikern, Konzernchefs und Medienmachern?

Um zu verstehen, was sich heute vor unser aller Augen abspielt, müssen wir die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts betrachten: Damals begannen einiger Theoretiker sich mit Themen wie Wissen, Macht und Sprachen zu beschäftigen. Die daraus hervorgegangenen Konzepte tauchten in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen auf und wurden später unter dem Begriff ‚Postmodernismus‘ bekannt. Dieser ist bewußt ungreifbar angelegt, doch lässt er sich am ehesten als ablehnende Haltung gegenüber der Moderne verstehen. Wissenschaft, Vernunft und Individualismus  als Säulen der neuzeitlichen westlichen Gesellschaften wurden von den postmodernen Theoretikern abgelehnt. Die Wahrnehmung von der Gesellschaft als einem Zusammenspiel aus Individuen, die mit einer gemeinsamen Realität interagieren und somit Fortschritt erzielen, teilen sie nicht. Sie wollen bloss verschiedene Gruppen erkennen, die jeweils eine spezielle kollektivistische Identität innehaben und von dieser Warte aus die Welt interpretieren, ohne jemals annähernd über diese subjektive, perspektivische Sichtweise hinwegblicken zu können. Das, was wir Wissen, Wahrheit, Sinnhaftigkeit und Moral nennen, bezeichneten Postmodernisten als ausschließlich subjektives, relatives Konstrukt, welches der jeweiligen Kultur entspringt und untrennbar mit ihr verbunden ist. Der Postmodernismus verneint demnach die Existenz einer objektiven Wahrheit und besagt zudem, dass menschlichen Interaktionen auschließlich Machtinteressen zugrundeliegen, und dass die Machtdifferenz einer Gesellschaft sich in Diskursen (die Art, wie wir über Dinge sprechen) festigen.

Aus dieser Sichtweise entspringt in erster Linie ein radikaler Skeptizismus gegenüber allen Normen, Werten, Definitionen und Kategorien, da sie als Mittel zur Machterhaltung der Unterdrücker-Gruppe betrachtet werden. Postmodernisten wollen diese – ihrer Meinung nach ausschliesslich sozial konstruierten – Grenzen sprengen, um das Machtgefüge zu verschieben und die ‚maginalisierten‘ Gruppen, die aufgrund ihrer blossen gesellschaftlichen Stellung stets moralisch überlegen seien, zu unterstützen. Als unmoralische, dominante Unterdrücker-Gruppe wollen sie weisse heterosexuelle Männer westlicher Herkunft ausgemacht haben.

Erst in den 80er Jahren machte sich eine zweite Generation von Postmodernisten daran, konkrete gesellschaftspolitische Ziele zu formulieren und aktiv zu verfolgen. Die beschriebene Absicht, die bisherige Ordnung zu dekonstruieren, konnte fortan zunehmend anhand konkreter aktivistischer Maßnahmen beobachtet werden. Mit einer radikal-skeptischen Haltung (die sich aufgrund ihrer ideologischen Natur von der vernünftigen wissenschaftlichen Skepsis grundlegend unterscheidet) wurde praktisch jedes noch so kleine gesellschaftliche Phänomen kritiisert und dareufhin gefordert, es über den Haufen zu werfen. Postmodernisten stürzen sich zum Beispiel auf die Sprache, die von ihnen als Motor der Unterdrückung angesehen wird. Man begann das gesprochene wie auch das geschriebene Wort so lange und ‚genau‘ auf ‚Diskriminierung‘ zu untersuchen, dass man nur ‚fündig‘ werden konnte. Dem Empfänger einer gehörten oder gelesenen Botschaft ein Missverständnis zu unterstellen ist laut Postmodernismus unzulässig, da es keine objektive Dimension gibt – ausser eben die, dass die Wahrnehmung des Empfängers darüber entscheidet, ob Diskriminierung stattfindet oder nicht. Im Verlauf der Zeit präzisierte der Postmodernismus allerdings, dass die Regel nur zutreffe, wenn der Empfänger einer ‚marginalisierten‘ Gruppe (Frauen, ehtnische Minderheiten, LGBTQ) angehöre. Deren ‚Marginalisierung‘ wurde schlicht a priori vorausgesetzt, ohne dafür hinreichende Argumente oder Beweise zu liefern. […]

Neben der Sprache wurden auch sämtliche Kategorien wie die der Geschlechter und sogar die Definition von Behinderungen angegriffen – mit dem Versuch, sie aufzuweichen und denjenigen, die sie für gültig, logisch und sinnvoll halten, eine diskriminirende und ‚machthungrige‘ Geisteshaltung zu unterstellen. Besonders rasant wurde – und wird nach wie vor – mit dem Vorwirf des Rassismus um sich geworfen. Wenn es nach den postmodernen – ‚woken‘ Aktivisten geht, steckt er in den westlichen Gesellschaften überall, da Weisse inhärent rassistisch seien. Diese Vorwürfe und eine ihrer theoretischen Grundlagen, die sogenannte ‚Postkoloniale Theorie‘, wollen wir uns im kommenden Abschnitt […] im Detail ansehen.“

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 28, Ausgabe 55, Juli 2023

Die Postkoloniale Theorie

„Die sogenannte ‚Postkoloniale Theorie‘, welche sich im akademischen Bereich des Westens grosser Beliebtheit erfreut, stützt sich auf das postmoderne Verständnis von Wissen als Konstruktion von Macht, die durch Diskurse aufrecht erhalten wird, weshalb sie eine Untersuchung der materiellen Realität im Westen oder den einst von Kolonialmächten unterworfenen Ländern vermeidet. Der zentrale Gedanke der Postkolonialen Theorie lautet, dass der Westen sich durch die Art zu reden als Gegensatz zu den Kulturen des Ostens (ebenso zu denen des Südens) positioniert, weshalb der westliche Kolonialismus weiterhin fortbesteht, obwohl dieser offiziell in den 50er-Jahren sein Ende nahm. Gerade und ausgerechnet im allein beschuldigten Westen findet man kolonialistische Narrative heutzutage kaum bis gar nicht mehr, doch werden sie in der Postkolonialen Theorie behandelt, als wären sie der ausschlaggebende Faktor für die heutige, westliche Art zu reden und zu denken. Andere Zivilisationen und Ethnien würden in der westlichen Sprache und Kultur weiterhin systematisch herabgewürdigt werden, was in der Theorie als ‚Orientalismus‘ bezeichnet wird.

Die Gegenmassnahmen zum vermeintlichen Orientalismus laufen meist unter dem Begriff ‚Dekolonialisierung‘. Etwas zu dekolonisieren, das überhaupt nicht kolonisiert ist, kann sehr verschiedene Formen annehmen: So sollen z.B. Menschen aus dem Osten und Afrika die von Weissen verfasste Geschichte ‚aufheben und neu schreiben‘, was dazu führt, dass mittlerweile auch jede noch so absurde Fantasie in die ‚Geschichtswissenschaft‘ eingeflochten werden kann und historischer Revisionismus auch in den Medien Hochkonjunktur hat. Der ‚poloitische korrekte‘ Akt der Geschichtsverfälschung geht mittlerweile so weit, dass weisse britische Könige aus dem 15. Jahrhundert von schwarzen Schauspielerinnen dargestellt werden.

SJWs wollen auch die Wissenschaft ‚dekolonisiert‘ sehen, wohinter sich, zu Ende gedacht, nichts weniger als deren Abschaffung verbirgt. Gemäss angewandtem Postmodernismus hat der Westen die Maxime, dass Vernunft und Wissenschaft gut seien, konstruiert um seine eigene Macht aufrechtzuerhalten. Deshalb müsste man heute die ‚weissen, westlichen Wissensformen‘ entwerten und ‚östliche/südliche Formen‘ fördern, um den Kräfteunterschied auszugleichen. Das geht so weit, dass Mathematik, Philosophie oder Physik als rassitisch gebrandmarkt werden und dazu aufgerufen wird, ‚Andere Formen des Wissens‘ zu etablieren. Das kann in der Praxis durchaus bedeuten, haarstreubenden Unsinn als wissenschaftlich wertvoll hinzunehmen, solange dieser Unsinn von einer ‚marginalisierten‘ Gruppe vorgebracht wird.

Mit der Prämisse, Wissen oder Wissenschaft seien westliche Unterdrückungsinstrumente, und nicht menschliche Errungenschaften, die allen Gesellschaften gleichermassen zum Vorteil gereichen, bedroht die Postkoloniale Theorie  nicht nur die Fundamente fortgeschrittener Gesellschaften, sondern steht auch dem Aufstieg von Entwicklungsgesellschaten im Weg. Da viele Entwicklungsländer von einer technischen Infrastruktur profitieren würden, die menschliche Dauerkatastropfen überwinden helfen könnte, ist der Zynismus der Postkolonialen Theorie gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt nicht nur moralisch hohl und bevormundend, sondern auch faktisch fahrlässig und gefährlich. Ausserdem ‚orientalisiert‘ sich im Kern nichtweisse Menschen, indem sie suggeriert, Wissenschaft und Vernunft seien nichts für sie.

Da der Kolonialismus im Denken der Postkolonialen Theorie schlicht fortexistiert, sind sämtliche aktuellen Menschenrechtsverletzungen in ehemals kolonisierten Ländern ein Erbe des Kolonialismus oder Produkt des fortbestehenden sprachlich-kulturellen Kolonialismus. Dies erschwert es offensichtlich, solche Verletzungen zu bekämpfen. So führen Postkolonale Theoretiker die veitverbreitete Unterdrückung der Frauen in streng islamistischen Kulturen nicht etwa auf eine autoritäre Auslegung der rekigiösen Lehren des Islam zurück, sondern interpretieren sie als Folge des westlich Kolonialismus und Imperialismus, der jene Kulturen pervertiert und dadurch die Übergriffe überhaupt erst verursacht hätte. Da laut der Theorie allein der Westen mit dem Kolonialisierungsvorwurf konfrontiert werden kann, kommt es auch nicht zur Anklage gegen derzeitige (Gross-) Mächte, die nach wie vor Besitzansprüche stellen und Expansionsambitionen verfolgen. Das erklärt den in der Theorie eingebetteten Doppelstandard: Wenn z.B. Feministinnen aus nichtwestlichen Ländern versuchen, die Unterstützung westlicher SJWs für ihre Anliegen zu gewinnen, kommen kaum Reaktionen. Das mag absurd erscheinen, ist aber innerhalb der Theorie durchaus konsequent.

Es gibt kaum einen Grund zu der Annahme, dass ethnische Minderheiten und Bevölkerungen ehemaliger Kolonien irgendeine Verwendung von Theorien haben, die nahelegten, dass die Mathematik ein Werkzeug des westlichen Imperialismus ist oder dass Lesen und Schreiben Formen postkolonialer Aneignung darstellen. Ebenso praxisfern und geradezu lächerlich abstrakt gestaltet sich die sogenannten ‚Quer-Theorie‘, die uns im nächsten Abschnitt beschäftigen wird.“

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 39, Ausgabe 55, Juli 2023

Die Queer-Theorie

„Ein weiterer Auswuchs des angewandten Postmodernismus ist die sogenannte ‚Queer-Theorie‘. Ihr liegen abenfalls das postmoderne Wissensprinzip (Unmöglichkeit onjektiver Realität) und das politische Prinzip des Postmodernismus (Strukturierung der Gesellschaft durch Systeme der Macht und Privilegierung, die über unser Wissen bestimmen) zugrunde. Ihre Anhänger forussieren sich vornehmlich auf die Zerstörung von herkömmlichen – zumeist binären – Kategorien für Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung.  Sie erachten diese als repressiv und verneinen, dass ihnen eine wie auch immer geartete biologische Realität zugrunde liegt. Männlich und weiblich, heterosexuell und homosexuell, aber auch dick und dünn, behindert und nicht-behindert – solcherlei Klassifikationen erachtet die Queer-Theorie als absolut künstlich und als ein Produkt von gesellschaftlichen Diskursen, also als soziale Konstruktionen.

Die Queer-Theorie geht davon aus, dass durch Kategorisierung automatisch Unterdrückung entsteht, und zwar immer dann, wenn die Sprache ein Gefühl dafür konstruiert, was ’normal‘ ist: Starre Kategorien von anatomischem Geschlecht (männlich und weiblich), sexueller Orientierung (heterosexuell, schwul, lesbisch, bisexuell usw.) und viele weitere würden produziert und aufrechterhalten, indem man Menschen in diese Kategorien ‚einschreibt‘. In diesen simplen Konzepten meint die Queer-Theorie gewalttätige Konstrukte zu erkennen. Daher legt sie grössten Wert darauf, sie zu dekonstruieren. Dies soll durch gezielte Störmanöver zur Verwirrung der Geschlechter bewerkstelligt werden. Dazu gehören z.B. Drag- oder Queer-Ästhetik, das Edrfinden von ’non-binären‘ Geschlechtsidentitäten, das Verwenden geschlechtsneutraler Pronomen und vieles mehr. Die einflussreichste Vertreterin der Queer-Theorie ist Judith Butler. Sie versucht ausführlich zu begründen, dass die Geschlechtsidentität (gender) und das anatomische Geschlecht (sex) zwei verschiedene Dinge seien, kein notwendiger Zusammenhang zwischen ihnen bestehe und das anatomische Geschlecht sogar zu vernachlässigen sei. Dazu führt sie das Konzept der Gender-Performativität (gender-performativity) ein. Es handelt sich dabei um ‚die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt‘. Dies bedeutet, dass beispielsweise die Kategorie Geschlecht nur dadurch real wird, dass es benannt und danach gehandelt wird. Das Geschlecht ist für Butler etwas, das ein Mentsch tut, und nichts, was etwas damit zu tun hätte, wer er von Natur aus ist. Die Gesellschaft zwinge es auf und verbinde es mit sprachlichen Signalwörtern wie ‚männlich‘ und ‚maskulin‘. Indem Menschen entsprechende Rollen ‚ausführen‘, also die mit ihnen verbundenen sozialen Erwartungen erfüllen (Performativität ), erzeugten sie die (repressive) Illusion, dass die Rollen selbst real, stabil und von Natur aus gegeben seien.

Um die ‚unterdrückerischen‘ Diskurse, die Menschen in Kategorien ‚zwängen‘, zu stören, wird sich bestimmter Mehtoden bedient. Dazu gehört zum einen ‚Genderfuck‘ – eine Strategie, die beschrieben wird als ‚Geschlechtspräsentationen, die mit Geschlechtssereotypen  spielen und bewusst verwirren möchten, indem verschiedene Geschlechtsstereotype miteinander vermischt werden‘. Daneben gibt es noch das sogenannte ‚Queeren‘. Etwas zu ‚queeren‘ (to queer) bedeutet in diesem Sinne, Zweifel bezüglich seiner Stabilität zu wecken, scheinbar feststehende Kategorien zu untergraben und alle darin enthaltenen ‚Binaritäten‘ zu problematisieren. Durch eine kontraintuitive Betrachtungsweise  soll jedwesdes Gefühl von Normalität überwunden werden, um die Menschen von den Erwartungen, die durch herrschende Normen geweckt werden, zu ‚befreien‘. In diesem Rahmen wurden die zahllosen merkwürdigen Pronomen und Bezeichnungen für unterschiedlichste ‚Geschlechter‘ eingeführt, die kaum jemand mehr überblicken geschweige denn deuten kann.

Eine gleichsam ‚kontraintuitive‘ und jegliche Objektivität verneinende Herangehensweise wird im Bereich der Ethnien praktiziert. Wenn es nach den postmodern-‚woken‘ Aktivisten geht, steckt Rassismus in den westlichen Gesellschaften überall, da Weisse inhärent rassistisch seien. Diese Vorwürfe und ihr theoretische Grundlage, die sogenannt ‚Kritische Rassentheorie‘ (Critical Race Theory, CRT) wollen wir uns im komenden Abschnitt […] im Delail ansehen.“

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 50, Ausgabe 55, Juli 2023

Die Kritische Rassentheorie – Critical Race Theory – CRT

„Die sogenannt ‚Kritische Rassentheorie‘ (Englische: Critical Race Theory, kurz: CRT) entstand ausgerechnet in den USA der 70er-Jahre nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King jr., als sich die öffentliche Meinung aus historischer Perspektive bemerkenswert schnell änderte. Sie versteht sich als Gegenbewegung zur liberalen, egalitären Geisteshaltung (wird von vielen aber auch als logische Folge daraus interpretiert) und pocht darauf, dass die ‚Farbenblindheit‘ keinen Einzug in die Gesellschaft erhält. Laut der CRT ist Rassismus eines der größten gesellschaftlichen Probleme und jederzeit allgegenwärtig. Weisse würden Rassismus – bewusst und/oder unbewusst – praktizieren, um ihre ‚Machtposition‘ zu erhalten und alle Nicht-Weissen (‚People of Colour‘) zu unterdrücken. Das Problem sei systemisch und eine inhärente Charaktereigenschaft von Weissen, die ihren Rassismus daher niemals ganz ablegen könnten. Das Perfide am heutigen Rassismus sei, dass er nur selten eindeutig und offensichtlich auftrete, sondern sich vielmehr durch Diskurs – also die Art, wie wir sprechen – und dadurch westliche Normen und Werte manifestiere. In der Folge sehen CRT-Anhänger alles Soziale durch eine Art ‚Rassismus-Brille‘. Zurecht drängt sich der Eindruck auf, dass die CRT selbst sehr rassistisch ist, wenn sie weissen Menschen tiefreifende moralische und charakterliche Mängel vorwirft.

Derrick Bell, erster afroamerikanischer Professor an der Harvard Law School, wird oft als Stammvater der CRT angesehen. Bell ist bekannt für seine These , die Weissen räumten den Schwarzen nur dann Rechte ein, wenn es ihren eigenen Interessen diene – z.B. mit der Aufhebung der Rassentrennung. Derart abstruse, drastische und anklagende Denkweisen sind exemplarisch. Die von der CRT unterstellte Allgegenwart und Ewigkeit des Rassismus, egal was Weisse auch tun, verleiht im einen religiöden Status, der jegliche rational-argumentative Debatte von vornherein verunmöglicht.

Seine Anhänger suchen so lange aktiv nach offenen und versteckten rassistischen Vergehen, bis sie welche finden, und sie lassen keine alternativen oder mildernden Erklärungen zu – wie etwa, es habe sich um ein Missverständnis gehandelt. Psychologisch gesehen, ist es ein äusserst unkluges Vorgehen, Menschen als inhärente Rassisten zu diffamieren, während sie sich selbst nicht für Rassisten halten (und Rassismus vielleicht sogar aktiv bekämpfen) – und sie dann noch zu uneingeschränkter Kooperation zwecks Bekämpfung ihrer ‚rassistischenNatur‘ zu drängen. Noch weniger hilfreich ist es, ihnen zu sagen, dass sogar ihre guten Absichten ein Beweis für ihren latenten Rassismus sind. Am schlimmsten (und unlogischsten) aber ist es, wenn man sie mit Doppelbotschaften belästigt – etwa indem man ihnen sagt, dass sie rassistisch seien, wenn sie die ethnische Zugehörigkeit wahrnehmen, aber auch wenn sie sie nicht wahrnehmen, was sie sich nur aufgrund ihres privilegierten Status leisten könnnten.

Derartige Unterstellungen untergraben die verbliebenen Verbindungen, welche die Gesellschaften der Gegenwart gerade noch so vor dem in kriegerischen Auseinandersetzungen daherkommenden Zerfall behüten. Immer wieder zeigt sich dies in der Praxis: vor allem in Universitäten besteht die latente Bedrohung, dass sich jederzeit ein aggressiver Mob bildet, wenn jemand die intoleranten und endgültigen Glaubenssätze der CRT und ihrer Anhänger offen kritisiert.

Doch Postmodernisten sehen Schwarze nicht als einzige Opfer der westlichen Gesellschaft an: Die Lehre des Intersektionalismus beschreibt das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher ‚Opferidentitäten‘. Ein heterosexueller schwarzer Mann – in der CRT isoliert betrachtet ein bemitleidenswertes Opfer von pausenlosen rassistischen Anfeindungen – wird, wenn es nach dem Intersektionalismus geht, nicht annähernd so stark diskriminiert wie eine schwarze, gehbehinderte ‚Trans-Frau‘. Folglich entsteht eine Art ‚Opfer-Hirarchie‘ mit teils abstrusen Dynamiken. Den Aspekt der der angeblichen Diskriminierung aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen wollen wir uns nun im Detail ansehen. Hier bildeten sich zwei eigene ‚Forschungsfelder‘ heraus, die sogenannte ‚Disability Studies‘ und ‚Fat-Studies‘.

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 66, Ausgabe 55, Juli 2023

Die Disability- und Fat-Studies

„Mit der Wende zum angewandten Postmodernismus in den 80er- und fühen 90er-Jahren entstanden erste ‚woke‘ Ansätze zur Interpretatione von Behinderungen und Fettleibigkeit. Sie führten zu zwei neuen Bereichen innerhalb der Identitätsforschung: ‚Disability Studies‘ und ‚Fat-Studies‘. Im Gegensatz zur ursprünglichen Behindertenbewegung, die für die Akzeptanz von Behinderten und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpft(e), sieht das ‚Forschungsfeld‘ der ‚Disability-Studies‘ in der Trennung von Behinderten und Nicht-Behinderten eine sozial konstruierte Grenze, die einer onjektiven Grundlage entbehrt. Unter dem Begriff ‚Ableismus‘ machen Anänger der Theorie Nicht-Nehinderten den Vorwurf, aus ihrem körperlichen Zustand eine ideologische Norm zu machen, die Menschen unterdrücke, die z.B. nicht hören, sehen oder gehen können. Daher seien Behinderte auch eine stark diskiminierte Gruppe, die in den Kampf gegen die Normen und Werte der westlichen Gesellschaft eingespannt werden müsse.

Laut ‚Disability-Studies‘ ist jemand nur behindert aufgrund der gesellschaftlichen Erwartung, dass Menschen im Allgemeinen nicht behindert sind und davon profitieren, sowie der daraus resultierenden allgemeinen Bestrebung, Behinderte von ihrer Behinderung zu befreien. Behinderung sei demnach ein Zustand, der den Betroffenen auferlegt wurde. Diese Sichtweise resultiert in der Erwartungshaltung, dass Behinderte ihre Behinderung als identitätsstiftend ansehen und sie grorifizieren sollten, um die überwiegend überwiegend von Nicht-Behinderten geprägte Kultur zu untergraben. Geschieht dies nicht und äussern Behinderte den Wunsch, ohne Einschränkungen leben zu können, so machen radikale Vertreter ihnen den Vorwurf, sie hätten den ‚Ableismus‘ verinnerlicht und werteten sich dadurch selbst ab.

Die ‚Fat-Studies sind ein ähnliches Feld; hier liegt der Fokus jedoch auf fettleibigen Menschen. Ihre Vertreter behaupten, Übergewicht sei unproblematisch – erst die westlichen Normen, die adipöse Menschen unterdrücken würden, machten es zu einem (Schein-)Problem. Biologie und rnährungswissenschaften werden von den ‚Fat-Studies‘ als reines Konstrukt zur Aufrechterhaltung der herrschenden Macht interpretiert. Den Wert der Gesundheit hervorzuheben, verwerfen sie als problematische Ideologie unter dem Stichwort Gesundheitswahn. Damit wird nicht nur eine ungesunde Verfassung verharmlost, wenn nicht gar idealisiert, sondern gleichzeitig allen Menschen, die tatsächlich Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen, eine impliziet hasserfüllte und unterdrückerische Gesinnung vorgeworfen.

Der ‚woke‘ Ansatz schafft einen brandgefährlichen Anreiz: Menschen, die grosse Mühe haben, ihr Gewicht zu kontrollieren, werden darin bestärkt zu ignorieren, dass ihr Übergewicht ein grosses Gesundheitsrisiko mit sich bringt. Sollte der Fett-Aktivismus auf gesellschaftlicher Ebene genauso bedeutsam werden wie derzeit der feministische und antirassistische Aktivismus, wären Ärzt, Wissenschaftler und Forscher, aber auch Familienmitglieder und Freunde aus Angst vor sozialer Ächtung in Zukunft wahrscheinlich noch zurückhaltender, Übergewichtige über die gesundheitlichen Risiken ihres Zustandes sowie Optionen für eine Verbesserung aufzuklären, damit sie rationale und ihrer Gesundheit zuträgliche Entscheidungen treffen können.

Insgesamt befeuern also sowohl die ‚Disability-‚ als  auch die ‚Fat-Studies‘ eine sehr schädliche Dynamik, die zweifellos die falschen Anreize schafft und Mitgefühl mit den Betroffenen ausschliesslich vorheuchelt. Dass diese Sichztweisen mittlerweile die akademischen Zirkel verlassen und sich in der Gesellschaft festgesetzt haben, soll im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden. Ob in den Medien oder staatlichen Institutionen: Eine neue Religion hat Einzug gehalten, deren Ideologie unablässig propagiert wird und in deren Namen Kritiker rücksichtslos mundtot gemacht werden.

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 74, Ausgabe 55, Juli 2023

Die Standpunkttheorie

„Seit 2010 haben sich die Ideen der Social-Justice-‚Forschung‘ vollends konkretisiert und allmählich im öffentlichen Bewusstsein verankert. Nachdem die Überzeugungen der ‚Woken‘ jahzehntelang im akademkischen und aktivistischen Feld herumspukten, mauserten sie sich zu Selbstverständlichkeiten, die immer weniger hinterfragt werden. Darum .lesen wir heute sogar immer häufiger in der Tageszeitung, dass ‚das Patriarchat, die Weisse Vorherrschaft, das koloniale Denken, die Cis- und Heteronormativität, der Ableismus und die Fettphobie‘ die Gesellschaft prägen würden und alle infiziert hätten. Die Diskriminierungs-Zusammenhänge seien immer und überall unter der Oberfläche des schönen Scheins gegenwärtig, der sie jedoch nicht völlig verbergen könne. Das ‚woke‘ Weltbild problematisiert unablässig die Gesellschaft und findet keinen Aspekt unseres Lebens, der nicht mit Kritik äüberzogen werden kann (und sollte). Nur ein Tabu existiert: Die Theoie der ‚Woken‘ darf niemals angezweifelt werden; dies gilt als objektiv wahr.

Mit der bereits behandelten Identitätspolitik der ‚Woken‘ geht die sogenannt ‚Standpunkttheorie‘ einher, die von folgenden Annahmen ausgeht: Zum einen würden Menschen innerhalb derselben ‚Identitäten‘ (Ethnie, Gender, Geschlecht, Sexualität, Status der Befähigung usw.) die gleichen Erfahrungen von Dominanz und Unterdrückung machen und diese auch auf die gleiche Art interpretieren – vorausgesetzt, sie verstehen ihre eigenen Erfahrungen, wie es die Lehre verlangt (abweichende Sichtweisen würden als Verinnerlichung der ‚Unterdrücker‘-Normen vom Tisch gewischt werden). Zum abderen entscheide die eigene, relative Position innerhalb der angenommenen sozialen Machtdynamik darüber, was man wissen und nicht wissen kann. Die ‚Privilegierten‘ seien aufgrund ihrer ‚Privilegien‘ verblendet und die ‚Unterdrückten‘ hätten eine Art siebten Sinn, weil sie sowohl die dominante Position als auch die Erfahrung der Unterdrückung kennen würden. ‚Unterdrückte‘ verstehen demnach sowohl die ‚dominante‘ Perspektive als auch ihre eigene Perspektive, während Mitglieder ‚dominanter Gruppen‘ lediglich die ‚dominante‘ Perspektive kennen. ‚Unterdrückte‘ Identitäten besitzen folglich laut ‚woker‘ Ideologie eine umfassendere Wahrnehmungsfähigkeit, und ihre Sicht auf die Realität sei präziser – das sei ein guter Grund, um weitgehend nur ihnen zuzuhören und ihren Berichten zu glauben. Nur der ‚Unterdrückte‘ könne letztendlich Dinge wirklich wissen, der ‚Unterdrücker‘ habe zu schweigen.

Auf diesem Gedankenkonstrukt aufbauend, versteht es sich von selbst, dass SJWs sich einer kritischen Betrachtung ihrer Standpunkte sowie ergebnisoffenen Diskussionen auf aggressive Weise verschliessen. Um dies zu verdeutlichen, bieten sich einige O-Töne von ‚woken‘ Theoretikern an: Robin DiAngelo bezeichnet alles ausser respektvoller Zustimmung als ‚Zerbrechlichkeit‘. Alison Bailey charkterisiert Meinungsverschiedenheiten als ‚vorsätzliche Unwissenheit‘ und Kristie Dotson deklariert Dissens als ’schädlich‘. Möchte man ein Fazit ziehen, so könnte man sagen, es handelt sich – entgegen aller Behauptungen der Anhänger – um eine neuartige Religion, die Widerspruch nicht zulässt und der die Menschen in zunehmend radikalerer Form ihre Treue schwören.

Im nähsten Teil […] sollen noch einige weitere Fallbeispiele aufgezeigt werden, um abzubilden, wie die ‚woke‘ Ideologie/Religion sich heutzutage in der alltäglichen Praxis niederschlägt.

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 85, Ausgabe 55, Juli 2023

Universitäten als Brutstätte der „Woken“

Die angewandte postmoderne Theorie ist aus der akademischen Welt ausgebrochen und übt inzwischen einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Kultur aus. Die sichtbarste Manifestation der Social-Justice-Bewegung ist ihr Aktivismus, der nur selten konstruktive Ansätze verfolgt, sondern stattdessen Empörung schürt und versucht, Menschen mit gegenläufiger Meinung zu diffamieren und auszugrenzen: Mitarbeiter sollen entlassen, Stars oder Dozenten an ihren Auftritten gehindert oder ‚anstössige‘ Produkte aus dem Sortiment genommen werden. Derlei Fälle häufen sich rasant, aber viele glauben immer noch, dass es kaum Grund zur Sorge gibt, weil sie das Ausmass nicht überblicken und die dahinterliegende Ideologie nicht versteht.

Nach wie vor sind Universitäten die Brutstätte für die ‚woke‘ Ideologie: Studenten nehmen die Indoktrination mit in die Welt und prägen die Gesellschaft. In den von der ‚woken‘ Bewegung beherrschten Flächen wird den Studenten beigebracht, Vernunft und Empirie skeptisch gegenüberzustehen, Wissen als identitätsgebunden zu betrachten, in jede Interaktion repressive Machtdynamiken hineinzulesen, jede Facette des Lebens zu politisieren und ethische Prinzipien je nach der Identität des Betroffenen ungleich anzuwenden. Aber der ‚Wokeismus‘ etabliert sich auch als vorherrschende allgemeine Campus-Kultur, in der viele dieser Ideen im studentischen Alltag als nicht zu hinterfragende Wahrheiten gelten. Wir stossen oft auf die Annahme, dass sich Studenten, wenn sie ihren Abschluss haben, auf dem Stellenmarkt behaupten müssen: demzufolge müssen sie in der ‚realen Welt‘ ihre ideologischen Positionen ein Stück weit aufgeben. Was aber, wenn sie ihre Überzeugungen schlicht einfach mit in die Berufswelt nehmen und diese Welt so umgestalten, dass sie ihnen passt?

Leider passiert genau das. Die reale Welt verändert sich und absorbiert die Postulate der postmodernen Theorie in atemberaubendem Tempo. Es bildet sich eine heute schon milliardenschwere Social-Justice-Industrie, die sich ganz der Aufgabe widmet, unseren Unternehmen und Institutionen bei der Einführung und Überwachung von ’sozialer Gerechtigkeit‘ zu helfen. Neue Stellen für ‚Diversitäts- und Inklusionsbeauftragte‘ spriessen wie Pilze aus dem akademischen, wirtschaftlichen und politischen Boden. Dieses Amt ist in vielen grösseren Behörden und Unternehmen von der Ausnahme zur Norm geworden, und seine Inhaber verfügen inzwischen über eine erhebliche institutionelle, soziale und kulturelle Macht.

Es ist wichtig zu beachten, dass die angewandte postmoderne Theorie zu einer dramatischen Entwicklung auf der psychologischen Ebene beiträgt. Den ‚Opfergruppen‘ wird vermittelt, das sie von Natur aus erxtrem verletzlich und zerbrechlich sind, und dass alles, was emotional unbequem oder aufwühlend ist, grossen Schaden anrichtet, statt die Resilienz zu stärken und die psychisch-emotionalen Fähigkeiten zu verfeinern. Daraus leitet sich folgelogisch ab, dass zwischenmenschlicher Konflikt verdammt und ihm aus dem Weg gegangen werden muss. So werden wissenschaftliches Arbeiten sowie gesellschaftlicher Fortschritt untergraben, weil diese massgeblich von Wettbewerb und Konflikt geprägt sein müssen. Die Art und Weise, wie die ‚woke‘ Ideologie konstruiert ist, schafft den Anreiz, möglichst hoch in der ‚Opferhierarchie‘ zu stehen, weil dies mit Anerkennung innerhalb der gleichgesinnten sozialen Gruppe und Aufmerksamkeit einhergeht – etwas, wonach vor allem junge Menschen in diesen Zeiten aus vielerlei Gründen lechzen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten: Eine neue Opferkultur bildet sich heraus, bei der der verletzliche, schwache Mensch idealisiert wird und die für uns alle kontraproduktiv ist.

Es bleibt zu hoffen, dass die ‚woke‘ Theorie eines Tages einer spontanen Selbstentzündung zum Ofer fällt, aber bis dahin wird sie wahrscheinlich noch eine Menge menschliches Leid und sozialen Schaden verursachen. Einen entschiedenen Standpunkt gegen diese unsere Gesellschaft zersetzende Ideologie einzunehmen, dürfte ratsam sein.“

ExpressZeitung: Wokeismus – Der Westen gibt sich auf. S. 101, Ausgabe 55, Juli 2023